Kürzlich hat eine Frau, nennen wir sie Lillian, in einem Workshop mitgeteilt, sie fühle sich in der Gruppe völlig isoliert. Sie verurteilte sich, dass sie weniger interessant und weniger gesellig sei als andere und hatte das Gefühl, ihre Probleme seien viel schlimmer als die aller anderen.
Wir fragten die anderen Teilnehmenden, wer von ihnen manchmal ähnliche Gedanken hätte, und alle streckten ihre Hand hoch. Wir erklärten Lillian, dass sie sich in dem Zustand befand, den wir „Schamblase“ nennen, und unter dem Angriff ihres inneren Richters. Es half ihr zu realisieren, dass das, was sie gerade erlebte, Scham war. Es sieht in diesen Momenten für uns alle so aus, als ob die Stimme des Richters die absolute Wahrheit sprechen würde.
Ein anderes Beispiel: Ein Teilnehmer sagte, obschon er sich als begabter Musiker fühle, könne er sich nicht motivieren, Leute zusammenzukriegen, um Konzerte zu veranstalten. Er hat zuviel Angst, zurückgewiesen zu werden. Die Folge davon ist, dass er kein Geld und wenig Energie hat und wegen seinem Mangel an Motivation auf sich selbst wütend ist.
Möglicherweise sind wir alle keinem grösseren Problem ausgesetzt als dem Thema Scham. Es verfolgt uns und oft scheint es, als könnten wir ihm nicht entkommen. Wir können uns noch so Mühe geben, wir werden fortwährend mit Enttäuschung, Frustration, Bewertung und Zurückweisung konfrontiert. Das Leben scheint ein harter Kampf darum zu sein, die eigene Kreativität zu finden und auszudrücken, uns in uns selbst endlich wertvoll zu fühlen und uns keine Sorgen mehr darüber machen zu müssen, ob wir dazugehören oder was andere von uns denken.
Es gibt kein Kurzrezept für den Umgang mit diesem lähmenden Problem. Doch in unserer Arbeit verfolgen wir ein paar einfache Schritte, die uns helfen, mehr Licht und Mitgefühl für uns selbst aufzubringen.
- Wisse, dass du nicht mit Scham geboren wurdest und lerne deine Schamgeschichte kennen. Wir haben gelernt, kritisch mit uns selbst zu sein, weil uns als Kind grundlegende Liebesnahrung fehlte in Form von Unterstützung, Führung, Richtungsgebung, Anregung, bedingungsloser Akzeptanz, Liebe und Zuneigung. Jede und jeder von uns hat eine andere Schamgeschichte, doch sie zeigt, wo die Scham herkommt. Aufgrund unserer frühen Lebenserfahrungen haben wir eine auf Scham basierende Identität entwickelt.
- Verstehe, dass Scham dich auf drei Ebenen angreift: Sie nimmt uns unsere Lebensenergie, sie kontrolliert unseren Verstand mit negativen, bewertenden Gedanken, und sie ist bestimmt unser Verhalten. Unser Schamverhalten zeigt sich in all dem, was wir tun, weil wir uns wertlos fühlen: Wir sabotieren uns selbst, hungern nach Anerkennung, betteln um Bestätigung, machen uns grösser als wir sind, geben auf, verschieben Dinge und nehmen Zuflucht zu Süchten.
Wenn wir uns unser Schamverhalten bewusst wird, besteht der nächste Schritt darin zu fühlen, was darunter ist und sehr liebevoll und sanft mit uns selbst zu sein. Aus der Scham heraus verurteilen wir unser Schamverhalten, und dann fühlen wir uns noch beschämter, was wiederum unser Schamverhalten verstärkt. Aus diesem Teufelskreis können wir ausbrechen, indem wir die Scham und den Schmerz unter dem Verhalten fühlen – und in ihn hineinatmen und mit ihm entspannen.
- Bewege deinen Körper regelmässig und entwickle gesunde Rituale. Dies hilft Würde und Selbstrespekt aufzubauen und den urteilenden Verstand zur Ruhe zu bringen.
- Gehe kleine, aber konsequente Risiken ein, um dich aus deiner Komfortzone heraus in Richtung von mehr Lebendigkeit und Würde zu bewegen. Das Eingehen kleiner Risiken mobilisiert unsere Lebensenergie, und dadurch beginnt sich unsere Schamidentität zu verändern. Das Risiko kann zum Beispiel darin bestehen, etwas zu tun, was du hinausgeschoben hast, oder etwas Neues zu lernen, das du schon immer lernen wolltest. Die Art des Risikos ist individuell. Für den einen könnte es darum gehen, etwas Neues zu tun wie Tanzunterricht zu nehmen oder eine Sprache zu erlernen. Für den andern könnte es der Mut sein, sich verletzlich zu zeigen, und für einen Dritten, ehrlicher zu sein.
Es gibt zwei Arten von Risiken, die wirklich helfen, mehr Selbstachtung zu gewinnen: Die eine, wenn wir uns in Situationen, bei denen wir Übergriffe oder Respektlosigkeit erleben, durchzusetzen beginnen. Die andere, wenn wir lernen, mit unserer Frustration und unserem Schmerz darüber zu sein, dass wir von uns nahe stehenden Menschen nicht bekommen, was wir wollen. Aus unserer Schamidentität heraus tun wir normalerweise genau das Gegenteil: Wir schweigen, wenn uns jemand über die Grenze geht, und wir beklagen uns, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen. Dieses Verhalten unterminiert unser Selbstgefühl.
- Wenn du dich von deinem inneren Richter angegriffen fühlst, hilft es, „den Kanal zu wechseln„. Anstatt den Stimmen des Richters zuzuhören (die immer aus dem Verstand kommen), schlagen wir vor, es zur Gewohnheit zu machen, auf das Herz zu hören. Aufs Herz hören heisst, mit Liebe, Akzeptanz und Weisheit zu hören. Das Herz kann jede Situation, in der wir hart mit uns selbst sind, auf neue Weise betrachten. Sogar wenn der Richter mit irgendwas recht hat, kann das Herz mit Liebe auf die Situation schauen und uns unterstützen und helfen, die Situation aus einer grösseren Perspektive zu sehen. Doch weil wir alle so gewohnt sind, uns selbst zu verurteilen, braucht das Hören mit dem Herzen Übung. Manchmal hilft es, einen liebevollen und vertrauneswürdigen Freund oder Therapeuten zu haben, um uns die Pespektive des Herzens zu geben.
- Sei beharrlich. Wir haben unsere Schamidentität über Jahre entwickelt, und sie hat zunehmend die Art und Weise bestimmt, wie wir uns selbst sehen und fühlen. Um diese negative Identität durch eine neue, auf unserer essentiellen Energie basierenden Identität zu ersetzen, braucht es Zeit. Wenn wir Selbstrespekt und Bedeutung aufbauen wollen, müssen wir uns selbst immer wieder aufrappeln und sanft mit uns umgehen, wenn wir hinfallen. Es ist ein bisschen wie beim Gehenlernen. Wir müssen lernen, diesem inneren Gefühl zu folgen, dass wir wahrhaft einzigartig sind und etwas Wunderbares zu geben haben. Unserer Erfahrung nach wird uns die Existenz auf geheimnisvolle Weise unterstützen, wenn wir beharrlich dranbleiben.