Viele von uns quälen sich mit den inneren Stimmen, die fortwährend unser Verhalten, unsere Leistung und unseren Selbstwert hinterfragen, uns konstant mit andern vergleichen und uns antreiben, meist unerreichbar hohen Ansprüchen und Erwartungen zu genügen. Wir glauben diesen Stimmen, und oft lähmen sie uns und führen uns in tiefe Scham und Gefühle von Unzulänglichkeit.
Dazu kommt, wenn wir so leben, wie wir denken, wir „sollten“, sind wir unfähig zu fühlen und wissen, wer wir sind. Wir folgen dem Diktat unseres Richters und nicht dem, was für uns selbst wahr ist. Dabei sind wir derart beschäftigt mit dem Versuch, die Erwartungen unseres Richters zu erfüllen, dass wir nie entdecken, was für Werte wir selbst haben.
Unser innerer Richter ist eine unablässige Energie in unserer Psyche, und dies seit unserer Kindheit. Einige von uns greift sie dauernd an, egal was wir tun oder wie wir uns verhalten, und gibt uns das Gefühl, grundlegend falsch oder ungenügend zu sein.
Andere unter uns fühlen die Attacke vor allem dann, wenn wir etwas vermasselt haben oder wenn wir zurückgewiesen werden, wenn wir uns mit unserer Kreativität zeigen, wenn wir irgendwo versagen oder wenn wir eine Grenze überschreiten und etwas tun, das die Prinzipien verletzt, die uns beigebracht worden sind.
Manchmal ist ein wahrer Kern in dem, was uns der innere Richter sagt, aber er bringt es auf eine derart verurteilende und grobe Art und Weise, dass es unser ohnehin zerstörtes Selbstwertgefühl nur noch mehr herunterdrückt. Und was noch bedeutsamer ist, es trägt unseren tiefsten Bedürfnissen nicht auf liebevolle Weise Rechnung und hilft uns nicht zu wachsen und aus Situationen zu lernen.
Die Stimmen und Angriffe unseres inneren Richters zu transformieren, ist ein grundlegender Aspekt der Learning-Love-Arbeit. Solange wir der Richterstimme erlauben, unser Leben und unsere Entscheidungen zu steuern, solange können wir unser Leben nicht wirklich leben und solange fühlen wir uns nicht wert genug, Liebe zu empfangen und zu geben.
Während der Zeit, in der wir heranwachsen, brauchen wir alle auf irgendeine Art Führung und Struktur. Wir brauchen ein uns leitendes Bewusstsein aufbauen zu können, welches die richtige Mischung beinhaltet aus Diszipin und Verspieltheit, Beherrschung und Wildheit, Planen und Im-Moment-Leben, Verantwortung und Sorglosigkeit, und schliesslich eine gesunde Mischung aus Sensibilität unseren eigenen Bedürfnissen und denjenigen anderer gegenüber.
Doch diese intelligente und bewusste Mischung haben wenige von uns erfahren. Entweder haben wir zuviel von der einen oder zuviel von der anderen Seite mitbekommen – zuviel oder nicht genug Struktur, zuviel oder nicht genug Selbstdisziplin.
Eigentlich ist der innere Richter da, damit wir uns sicher, zivilisiert und besonnen verhalten und einem bestimmten Standard von Verhalten und Erwartungen genügen, der uns als Kind mitgegeben wurde und den wir jetzt als angemessen betrachten. Natürlich ist dieser Standard unterschiedlich je nach Kultur, in der wir aufgewachsen sind. Zum Beispiel ist der Richter im Europa nördlich der Alpen viel rigider und strenger, während er in den Ländern südlich der Alpen bedeutend entspannter oder vielleicht sogar ein bisschen zu locker ist.
Doch, wo immer wir herkommen, unser innerer Richter ist nie freundlich. Er hat nicht wirklich Gutes im Sinn mit uns. Er sieht nicht, wer wir sind oder was für eine Art von Unterstützung, Führung oder Entfaltung wir brauchen. Er unterstützt uns nicht, voll und ganz lebendig zu sein, und er gibt uns oft unmöglich verwirrende, widersprüchliche Botschaften: „Du bist zu verklemmt – du bist verantwortungslos – du solltest erwachsen werden – du solltest spielerischer sein!“ oder „Du bist zu empfindlich – du bist nicht sensibel genug!“ und so weiter. Wenn wir von innen her oder von einer andern Person angegriffen werden, beginnen wir oft abzustreiten, uns zu verteidigen, zu rechtfertigen, zu bagatellisieren, werden wütend oder kollabieren.
Auf die eine oder andere Weise sind wir immer dieser strafenden, kritischen, unsensiblen Energie ausgeliefert.
Wie können wir dies also transformieren? Wie können wir dieser vernichtenden Kraft entkommen?
Erinnere dich daran, als du das letzte Mal von einer geliebten Person zurückgewiesen worden bist, einen blöden Fehler gemacht oder einen ernsthaften Rückschlag bei der Arbeit erlitten hast. Höchst wahrscheinlich hast du eine Richter-Attacke erlebt, die du entweder in Form von quälenden negativen Stimmen in dir oder als Energieabfall mit Niedergeschlagenheit und Motivationsverlust erfahren hast. Oder du konntest zuschauen, wie du in irgendein reaktives Verhalten hineingerutscht bist, um den Schmerz des Angriffs nicht fühlen zu müssen. Vielleicht auch alles aufs Mal. Du sagst zu dir: „Ich hab’s wieder getan!“, „Das klappt bei mir einfach nie!“, „Ich werde das nie schaffen!“, „Ich werde die Liebe, die ich will, niemals finden.“, „Etwas stimmt einfach nicht mit mir.“ Oder möglicherweise beschuldigst du andere oder die Welt dafür, dass sie so „ungerecht“ sind.
Stell dir vor, dass ein Wesen oder eine Energie vor dir steht, die unermesslich liebevoll und weise ist. Fühle die Qualität dieser Energie und spüre, dass sie dich aus tiefer Liebe und mit grossem Verständnis anschaut. Fühle, dass sie dich kennt und weiss, wer du bist, was du durchgemacht hast und was für eine Unterstützung du brauchst.
Du hörst eine Stimme, die sagt:
„Ich kann verstehen, dass es jetzt gerade sehr schmerzhaft ist für dich. Ich weiss auch, dass dieses Ereignis einige deiner tiefsten Verunsicherungen aktiviert hat. Doch was dein innerer Richter zu dir sagt oder die Kritik, die du von andern Menschen empfangen hast, ist nicht richtig. Ich schlage dir vor, das was passiert ist, auf eine andere Weise anzuschauen. Diese Beziehung hat nicht funktioniert (oder: du hast diesen Rückschlag erlitten oder diesen Fehler gemacht usw.), um etwas Wertvolles zu lernen. Es ist geschehen, damit du wachsen kannst. Ich will dich fragen, was du jetzt gerade am meisten brauchst, was dir helfen würde, dich von diesem schwierigen Ereignis zu erholen. Vielleicht brauchst du eine Unterstützung von einem nahen Freund oder von einer professionellen Person, die dich darin anleiten kann, zu erkennen, was du lernen kannst. Dies ist eine Zeit des Wachsens, des Lernens und der Stärkung. Du magst das im Moment nicht klar sehen. Nehmen wir uns einfach die Zeit, die du brauchst, um eine neue Perspektive zu gewinnen.“
Vielleicht kannst du fühlen, dass diese Sätzen aus einem ganz anderen Raum kommen als das, was du normalerweise vom inneren Richter hörst.
Wir nennen dies „den Kanal wechseln“ oder „auf die innere Weisheit hören“. Es braucht etwas Übung und Beharrlichkeit, um den Kanal zu wechseln, da wir uns so daran gewöhnt haben, unserem Richter zuzuhören, ohne zu hinterfragen, ob er die Wahrheit sagt, und ohne zu wissen, dass wir eine Alternative haben.
Wenn wir den Kanal wechseln und auf dieses weise, liebevolle Wesen hören, beginnt unsere Energie sich auszudehnen und sich vom Kopf ins Herz zu bewegen. Dies ist die Energie und Stimme der bedingungslos unterstützenden Eltern, die wir nie hatten. Diese Art von elterlicher Energie gibt der rigiden, moralischen, strafenden, rivalisierenden, vergleichenden, ungeduldigen, limitierten und verurteilenden Führung, durch die wir wahrscheinlich konditioniert wurden und welche die Grundlage für den inneren Richter bildete, keinerlei Aufmerksamkeit. Sie will nur das Beste für uns. Sie will, dass wir unser Leben in vollen Zügen leben, so wie es gemeint ist gemäss unseren Gaben, unserer Einzigartigkeit und unseres eigenen Weges.
Manchmal präsentiert uns das Leben sehr schwierige Herausforderungen. Manchmal ist es schwer für uns, das Licht, die Hoffnung und das Selbst-Vertrauen wieder zu finden. Damit wir wieder auf unserer Füsse kommen, ist es wichtig zu lernen uns bewusst zu werden, wie wir von unserem inneren Richter angegriffen werden, und dann unsere Aufmerksamkeit bewusst von dieser Energie wegzunehmen und der Energie von Liebe und höherer Weisheit zuzuwenden, die uns Unterstützung statt Verurteilung geben kann. Und manchmal brauchen wir auch jemanden, der uns hilft, uns auf diese Energie einzustimmen.
Es ist gut, jegliche Ressource und Unterstützung zu benützen, die du kennst, um aufzuhören, auf den kritischen Richter zu horchen und dich stattdessen liebevoll dir selbst zuzuwenden.